Die verlorenen Kinder
1993 verschwand in Berlin ein 12-jähriger Junge: Manuel Schadwald. 1996 schockierte der Fall des mehrfachen Kindermörders Marc Dutroux die Welt. Dutroux war vermutlich kein Einzeltäter – sondern Teil eines europaweiten Netzwerks. Ist dem auch Schadwald zum Opfer gefallen? Gemeinsame Recherchen mit der holländischen Zeitung „Algemeen Dagblad“ zufolge kam er auf einer Yacht in Holland ums Leben. Unsere Autoren Dirk Banse und Michael Behrendt verfolgen den Fall seit 18 Jahren
Wenn Jean Lambrecks über die Kindheit seiner Tochter spricht, verschwindet die Traurigkeit aus seinem Gesicht. Dann vergisst er für wenige Momente, was Belgiens bekanntester Verbrecher Marc Dutroux seiner Eefje angetan hat. Erinnert sich, wie liebevoll sie war, als Kind schon, wie spontan, interessiert. Vor allem an Technik und Musik. Ihre Noten waren gut, das Abitur hatte sie ja gerade erst erfolgreich bestanden. Journalistin wollte sie werden, sagt Jean Lambrecks, „sie wollte über andere Menschen berichten“.
Stattdessen wurde über sie berichtet, weltweit. Über das 19-jährige Mädchen, das vergewaltigt, gefesselt und betäubt worden war. Das in eine Plastikfolie eingewickelt und lebendig begraben wurde auf einem Grundstück nahe der trostlosen Stadt Charleroi in der Wallonie, Belgien. Wo man sie schließlich verscharrt unter einem Schuppen fand. Die Traurigkeit ist in das Gesicht des 67-Jährigen längst zurückgekehrt. Er erinnert sich noch genau.
Eefje hatte mit ihrer Freundin An Marchal Urlaub an der belgischen Küste in Westende gemacht. Von einem Ausflug kamen sie nicht zurück. Blieben verschwunden, trotz umfangreicher Suchaktionen. Monate, ein Jahr.
376 Tage später, am 3. September 1996, wurden ihre Leichen ausgegraben. Drei Wochen, nachdem Marc Dutroux in Belgien verhaftet worden war, das Ausmaß seiner Verbrechen langsam offenbar wurde. Zwei weitere Mädchen hatte er vergraben, zwei konnte die Polizei aus einem geheimen Verlies im Keller seines Hauses befreien. Alle Mädchen waren gefoltert und vergewaltigt worden.
Der Skandal um Marc Dutroux erschütterte Belgien in den Neunzigerjahren nachhaltig und sorgte weltweit für Entsetzen. Wie konnte es sein, dass ein polizeibekannter Sexualstraftäter, der wegen Entführung und Missbrauch bereits mehrere Jahre in Haft gesessen hatte, nicht früher gefasst worden war? Wie war ein Mensch zu so grausamen Verbrechen an Kindern in der Lage? 2004 fand schließlich der Prozess statt, Marc Dutroux wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber Zweifel begleiteten den Fall weiter. Vor wenigen Wochen erst veröffentlichte die belgische Zeitschrift „Le Soir Magazine“ eine Umfrage zum Fall Dutroux. Das Ergebnis: 80 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Wahrheit nicht bekannt sei – fast 20 Jahre nach der Verhaftung des Kindermörders. Wurde wirklich alles getan, um den Fall aufzuklären? Gibt es noch weitere Opfer? Und weitere Täter? Fragen, die lauter werden.
Der Mann mit den blassblauen Augen nippt am Rotwein, während er am Kamin eines belgischen Landgasthofs in der Nähe von Hasselt von seiner langen Suche nach der Wahrheit erzählt. Das Essen rührt Jean Lambrecks kaum an. Es fällt ihm an diesem Mai-Abend sichtlich schwer, über all das zu reden. Seine Hand liegt auf der seiner neuen Lebensgefährtin Els Schreurs. Sie beschäftigt sich inzwischen fast genauso intensiv mit dem Fall wie Lambrecks. Als sie sich 2009 kennengelernt haben, war Els Schreurs sofort klar, wie viel Raum der Fall im Leben dieses Mannes einnahm, und vor allem die Hoffnung auf Aufklärung. Ihr ging es bald ähnlich. Der Mörder von Eefje verbüßt eine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis, aber Ruhe fanden sie nicht. „Man will uns und die Weltöffentlichkeit glauben lassen, dass Dutroux ein Einzeltäter war. Aber das stimmt nicht. Wir haben sehr viele Hinweise darauf, dass er Teil eines Netzwerkes war, das nicht nur in Belgien existierte.“
Jean Lambrecks und seine Lebensgefährtin tragen fast jeden Tag Informationen zu dem Dutroux-Komplex zusammen, wollen jetzt darüber sprechen. Es gebe zahlreiche Spuren, sagen sie, unter anderem nach Deutschland und in die Niederlande. „Sie werden bis heute von den Behörden vertuscht. Vermutlich deshalb, weil Geheimdienste eine Rolle spielen. Schließlich geht es um Erpressung von einflussreichen Persönlichkeiten mit Kindersex“, sagt Els Schreurs.
Tatsächlich spricht auch Marc Dutroux selbst von kriminellen Strukturen mit Kontakten in hohe Gesellschaftskreise. „Ja, es gibt ein Netzwerk, das sind Schwerverbrecher. Ich stand in Verbindung mit bestimmten Leuten aus dem Netzwerk“, sagte er schon beim Prozess im Jahr 2004. 2012 schrieb der Mörder einen handschriftlichen Brief an den Vater eines des anderen getöteten Mädchen, Julie Lejeune. Auch darin behauptet Dutroux, dass er „auf dem Altar der Interessen der kriminell Unantastbaren“ geopfert werde, die tadellos organisiert seien und über Mittel verfügten, „die königlichen Institutionen“ zu beeinflussen. Zum Fall Eefje schreibt Dutroux dort, dass vonseiten der Justiz alles unternommen worden sei, „damit die Wahrheit nur bei einem Einzeltäter gesucht wurde“.
Wer diese „kriminell Unantastbaren“ waren, das sagt Dutroux bis heute nicht.
Jean Lambrecks und seine Lebensgefährtin glauben dem Mörder seiner Tochter in diesem einen Punkt. „Er war eine Art Händler“, sagt Els Schreurs. Dutroux habe Kontakte ins europäische Ausland. Er sei unter anderem mit einem Pädophilenring in den Niederlanden vernetzt gewesen, der für die Verschleppung von Jungen aus Polen und Deutschland in Kinderbordelle nach Rotterdam und Amsterdam verantwortlich war.
Tatsächlich war Marc Dutroux in den Niederlanden unterwegs, er ist dort mehrfach im Milieu gesehen worden, das bestätigen Augenzeugen. In Amsterdam stand er in Kontakt mit Menschen aus der Szene, verkehrte in den einschlägigen Lokalen. Und in Amsterdam verlieren sich in diesen Jahren auch die Spuren anderer Kinder. Etwa die des seit 1993 vermissten Berliners Manuel Schadwald, einer der bekanntesten Vermisstenfälle der Bundesrepublik.
Es gibt keine Leiche in diesem Fall, es gibt keinen Mörder. Der damals 12-Jährige ist einfach verschwunden. Aber es häufen sich die Hinweise, dass es Zusammenhänge gibt zwischen dem Verschwinden Manuel Schadwalds und dem Tod des belgischen Mädchens Eefje Lambrecks.
„Es gibt Parallelen zwischen dem Tod meiner Tochter und dem Verschwinden des Berliner Jungen. In beiden Fällen ist die ganze Wahrheit bislang nicht bekannt. Irgendjemand hat ein großes Interesse daran, das Ausmaß der Verbrechen zu verschleiern“, sagt Jean Lambrecks in dem Landgasthof an diesem Tag. Immer wieder wird er still. Und schaut lange in das Feuer des Kamins. Er und seine Lebensgefährtin haben sich in den vergangenen Jahren auch intensiv mit dem Fall Schadwald beschäftigt. Zeitungsartikel studiert, Zeugen getroffen, Unterlagen ausgewertet. Jean Lambrecks sagt: „Es gibt mittlerweile genügend Hinweise darauf, dass der Junge in die niederländische Kinderprostitutions-Szene verschleppt wurde.“
Manuel Schadwald verschwand an einem Sonnabend, es war der 24. Juli 1993. Er wollte in ein Freizeitzentrum im Berliner Stadtteil Köpenick, sagte seine Mutter später. Doch dort kam er nie an. Manuel war ein hübscher Junge mit dunklen Haaren und zarten Gesichtszügen. Freunde beschrieben ihn als schüchtern, sensibel und introvertiert. Die Eltern hatten sich früh getrennt, Mitschüler sollen der Polizei später berichtet haben, dass sich die Mutter nicht ausreichend um ihren Sohn gekümmert und ihn manchmal über Nacht allein gelassen habe. Trotzdem war er ein guter Schüler. Er sollte nach der Grundschule auf das Gymnasium wechseln. Aber dann verschwand er.
Vier Jahre später, im November 1997, tauchte der Name des Berliner Jungen plötzlich wieder auf. Ein niederländischer Fernsehsender berichtete von dem Verdacht, dass Manuel Schadwald auf einem Kinderporno-Film zu sehen sei. Die deutschen Medien reagierten sofort, die Öffentlichkeit war schockiert.
Die Berliner Polizei dementierte schnell, dass der Junge auf dem Video Manuel Schadwald gewesen sei. Sie machte allerdings nicht öffentlich, dass es in den Jahren zuvor tatsächlich zahlreiche Hinweise an die Ermittler zu dem Verschwinden des Jungen gegeben hatte. Und dass diese Hinweise auch in die Richtung der Kinderprostitutions-Szene in den Niederlanden deuteten.
So erhielt die Berliner Polizei bereits im Juni 1994 – also nicht einmal ein Jahr nach Manuel Schadwalds Verschwinden – eine wichtige Information. Damals hatte ein Mann bei der Beratungsstelle für schwule und bisexuelle Männer „Mann-O-Meter“ im Berliner Stadtteil Schöneberg angerufen und folgende Nachricht hinterlassen: „Ja, ich möchte meinen Namen nicht nennen. Ich wollte nur sagen, ich hab Beweise, dass der kleine Manuel in Amsterdam, ja in Amsterdam, in Holland, dass der tot ist. Ich hab wirklich Beweise dafür.“ Anschließend erfolgte die Beschreibung eines Mannes. „Wenn ihr ihn habt, habt ihr auch die Leiche von Manuel in Amsterdam.“
Das Originalband übergaben die Aktivisten am selben Tag der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes Berlin. Die Berliner Polizei reagierte auch prompt. Sie stellte ein Ermittlungsersuchen nach Amsterdam und fragte einen Tag später auch bei Interpol an – ergebnislos. Die Berliner Beamten begannen auch gemeinsam mit der Rotterdamer Polizei zu ermitteln. Im Februar 1995 wurden diese Ermittlungen jedoch eingestellt. Im Abschlussvermerk der niederländischen Fahnder stand, dass sich Manuel nicht in Rotterdam aufhalte oder aufgehalten habe. Bei der Berliner Polizei klappte man zunächst die Akte mit den holländischen Verbindungen zu.
Nachdem nun im November 1997 die Hinweise zu Manuel Schadwalds Rolle in einem Kinderporno aufkamen, schien die Berliner Polizei sich tatsächlich besondere Mühe zu geben, ihre Erkenntnisse zu den Ermittlungen für sich zu behalten. Noch im Herbst 1998 erklärte sie, es gebe bis heute keinen konkreten Nachweis, ja nicht einmal den kleinsten Hinweis, dass Manuel Schadwald überhaupt dieser Szene angehört habe. Aber die Hinweise gab es schon längst. Und genau das konnten Journalisten der Polizei auch wenig später nachweisen.
Heute formuliert die Berliner Behörde ihre Erkenntnisse anders. So steht etwa auf ihrer Internetseite zu dem Fall Schadwald: „In den vergangenen Jahren gingen auch Hinweise ein, die auf Verbindungen zur Homosexuellen- bzw. zur Kinderporno-Szene in den Niederlanden bzw. Belgien schließen ließen. Diese Hinweise konnten jedoch nicht verifiziert werden.“ Auf Nachfrage antwortete die Polizei in dieser Woche erneut, dass es keinerlei neue Erkenntnisse zu Manuel Schadwalds Verbleib gebe.
Recherchen des „Algemeen Dagblad“ und der „Welt am Sonntag“ in diesen Ländern kommen allerdings zu einem anderen Ergebnis. Mehrere hochrangige Polizisten, Mitglieder von Geheimdiensten und Leute aus der Kinderporno-Szene haben bestätigt, dass sich Manuel Schadwald in den Kinderbordellen in Rotterdam und Amsterdam habe prostituieren müssen. Ermittler sagten, dass sie sich offiziell nicht äußern dürften und dazu sogar schriftlich verpflichtet worden seien. Einer der wichtigsten niederländischen Fahnder bringt es mit zwei Sätzen auf den Punkt: „Natürlich war der Junge hier. Aber die Sonne wird nicht auf diesen Fall scheinen.“ Er rechnet nicht mit einer Aufklärung des Falles, solange einflussreiche Kräfte sie verhindern.
Es gibt weitere Fälle vermisster und ermordeter Kinder, die bis heute unaufgeklärt sind. Und bei denen Spuren in die Kinderprostitutions-Szene führen. Warum führten die Ermittlungen kaum zu greifbaren Ergebnissen? Wer behindert die Aufklärung? Und warum? Sind Antworten auf diese Fragen in Belgien und vor allem den Niederlanden zu finden?
Ein Zeuge aus der Szene schrieb in einer eidesstattlichen Versicherung: „Ich weiß, dass Berliner Kinder Anfang der 90er-Jahre in Bordelle nach Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen verkauft wurden. Die Berliner Staatsanwaltschaft ist darüber seit 1993 informiert. (…) Mein Name und meine frühere Tätigkeit als Kinderhändler sind der Berliner Staatsanwaltschaft ebenso seit 1993 bekannt.“ Dieser Mann lebte nach eigenen Angaben in einem Haus im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem in den 90er-Jahren ein zehnjähriger Junge spurlos verschwand.
Ein anderer Zeuge, ein Engländer namens Edward, sagte bereits 1997 in der Fernseh-Dokumentation „The Boy business“, dass im Amsterdamer Milieu alles außer Kontrolle geraten sei. Er habe mit eigenen Augen fünf Videos gesehen, auf denen kleine Jungen bei Sexspielen gefoltert und umgebracht worden seien. Er könne verstehen, dass man so etwas nicht glauben wolle. Und dann beschrieb er eine Szene noch ganz genau. „Ein Mann vergeht sich auf einem Boot an einem Jungen. Das Kind erstickt dabei. An Bord bricht Panik aus. Die Kamera fällt um.“
Zwei Undercover-Polizisten sagten, so zitiert es die Fernseh-Dokumentation, dass der britische Kinderschänder Warwick S. ihnen gegenüber in den 90er-Jahren damit geprahlt hatte, Filme besorgen zu können – sogenannte Snuff-Movies – auf denen detailliert gezeigt wird, wie Kinder vor laufender Kamera gequält und umgebracht werden. Er, Warwick S., sprach auch von dem Tod eines Jungen in Amsterdam, der zu dem Zeitpunkt 13 bis 15 Jahre alt gewesen wäre. Warwick S. hatte laut eigenen Angaben enge Kontakte zur Berliner Kinderpornografie-Szene. Und er hatte Kontakt zu einem mutmaßlichen Drahtzieher dieser Szene, Ludwig A., der tatsächlich auch der Berliner Polizei bekannt war.
18 Jahre später, im Mai 2015, Spurensuche an der holländischen Nordsee-Küste, ein bekannter Badeort. In den Lounges am Strand werden fruchtige Cocktails gereicht, Köche grillen Lobster und frischen Seefisch. Aus den Lautsprechern schallt zart Chill-out-Musik. Die Menschen sind entspannt und genießen die ersten freien Tage am Meer. Was hier keiner ahnt, nur wenige Meilen entfernt zieht eine Segelyacht ihre Kreise in der Abendsonne, auf der einst Sexspiele für gutbetuchte Päderasten stattfanden. Heute kann man auf ihr Charterfahrten buchen. Früher, in den 90er-Jahren, trug dieser Zweimaster am Heck noch den Schriftzug „Apollo“. Inzwischen heißt die Yacht anders.
Wenn es stimmen sollte, was mehrere Informanten dem „Algemeen Dagblad“ und der „Welt am Sonntag“ beschreiben, dann geschah auf diesem Boot Schreckliches. Dann war es der Ort, an dem ein Junge, an dem Manuel Schadwald, sein Leben verlor. Dann hatten sich dort einige wenige reiche Kunden aus Politik und Gesellschaft eingefunden, um vor laufender Kamera eine Sexorgie mit mehreren Kindern zu veranstalten. Dann wurde das Schiff nach dem Verbrechen in einen Militärhafen der niederländischen Marine geschleppt und gesäubert. Was aus den Filmaufnahmen wurde, ist unklar.
Tatsächlich bestätigt den Verdacht auch ein niederländischer Geheimdienstmann, der erst vor wenigen Tagen dazu bereit war, über den Fall zu reden. „Manuel Schadwald ist auf diesem Boot bei Sexspielen ums Leben gekommen“, sagt er. Das sei auch in den Akten des niederländischen Geheimdienstes so dokumentiert. Anschließend sei die Leiche im Meer versenkt worden. Und er sagt auch, dass der Fall vertuscht wurde, weil ranghohe Leute daran beteiligt waren. Warum er sein Schweigen jetzt erst bricht, das sagt er nicht.
War es dieses Boot? Es gibt Papiere zu der Segelyacht. Daraus geht hervor, dass sie einem inzwischen verstorbenen erfolgreichen niederländischen Wirtschaftsprüfer gehörte, dessen Lebensgefährte, Gerrit Ulrich, Auslöser des größten Kinderporno-Skandals der 90er-Jahre war.
In der Wohnung von Ulrich im niederländischen Badeort Zandvoort waren im Sommer 1998 zigtausende Fotos und Videos mit missbrauchten und gefolterten Kindern gefunden worden. Sogar Babys waren darunter. Wenige Tage zuvor waren der 49-jährige Ulrich und sein Geschäftspartner und Liebhaber noch zu einem Treffen mit uns erschienen. Dieser, ein tief in die Kinderporno-Szene verstrickter Belgier, hatte angegeben, Manuel Schadwald von Berlin aus in die Niederlande gebracht zu haben. Das steht auch in einem Rechtshilfeersuchen von Belgien an Holland. Kurz nach dem Gespräch erschoss der Belgier seinen Liebhaber Gerrit Ulrich. Er sollte angekündigt haben, die Szene verlassen zu wollen und auszupacken – komplett. Auch über Manuels Schicksal. Angeblich gab es in seiner Wohnung ein Versteck, in dem sich brisantes Material befand. Nach seiner Ermordung stürmte die Polizei seine Wohnung. Die Schwester von Ulrich berichtete später, dass bereits zuvor „dubiose Männer in der Wohnung waren und vor dem Eintreffen der Beamten in einem Auto davonrasten“. Sie sollen einen Film gesucht und gefunden haben, der in einem geheimen Fach gelegen habe. War es ein Video von der „Apollo“?
Auch eine Sozialarbeiterin aus dem wallonischen Teil Belgiens könnte im Besitz einer Kopie dieses Videos gewesen sein. Gina Pardaens-Bernaer arbeitete in den 90er-Jahren intensiv an den Fällen Schadwald und Dutroux und wollte schon damals einen Zusammenhang zwischen den Morden beweisen. Sie suchte den Kontakt mit privaten Ermittlern und Journalisten. Sprach auch uns gegenüber davon, das Video mit Manuel Schadwald zu haben. „Wisst ihr, die Sache wird immer gefährlicher. Ich bekomme Morddrohungen. Außerdem haben mich amerikanische Geheimdienstler angesprochen. Sie wollen den Film und mich dafür ins Zeugenschutzprogramm nehmen“, sagte Gina Pardaens-Bernaer in ihrem Haus in Herne im Oktober 1998. Ihr Mann stand neben ihr und sagte besorgt: „Ich habe Angst um sie.“ Wenige Wochen später fuhr die Frau mit ihrem Auto ungebremst gegen einen Brückenpfeiler. Einen Tag vor ihrem Tod, am 13. November 1998, war in ihr Haus eingebrochen worden. Ging es um den Film? Einen Tag nach ihrem Tod sollte sie zu einer Vernehmung bei der belgischen Polizei erscheinen.
Der verurteilte Kindermörder Marc Dutroux schreibt in seinem Brief an den Vater der getöteten Julie Lejeune auch von solchen Filmen. Julie und ihre Freundin Melissa seien von einer Bande entführt worden, die die Mädchen für eine Orgie und für diese sogenannten „Snuff-Aufnahmen“ brauchten. Die Kinder seien von Dutroux festgehalten worden, bis alle „Gäste“ sich auf einen Termin einigen konnten. Es habe bereits eine Grube für die Leichen der Kinder gegeben. Auftraggeber sei ein Brüsseler Geschäftsmann gewesen, der laut Dutroux „einen Arm länger als die Donau hat“. Und schließlich schreibt Dutroux: „Man muss die Existenz dieser Art von Kriminalität innerhalb unserer Institutionen anerkennen, will man die Gründe begreifen für das wiederholte Scheitern der Ermittlungen. Und auch, wenn man begreifen will, was mit Julie und Melissa wirklich passiert ist.“ An anderer Stelle heißt es: „Die Wahrheit verpflichtet mich, damit anzufangen, um zu beweisen, dass Julie und Melissa nicht von einem Einzeltäter entführt wurden, um seine eigenen Geschlechtstriebe zu lindern oder seine Familie zu vergrößern.“ Auch im Fall von Eefje spricht er davon, dass nicht richtig ermittelt worden sei.
Die Sozialarbeiterin Gina Pardaens-Bernaer ist nur eine von zahlreichen Menschen, die unter mysteriösen Umständen starben – während sie mit dem Fall des Kindermörders zu tun hatten. Ein Staatsanwalt und ein Polizist nahmen sich das Leben, beide recherchierten engagiert an der Theorie des Pädophilen-Netzwerkes. Manche Beobachter des Falles Dutroux sprechen von inzwischen 27 Todesfällen.
Jean Lambrecks, der Vater der ermordeten Eefje, sagt, alle, die die Wahrheit in diesem Fall suchen würden, müssten um ihr Leben fürchten. Oder hätten es bereits verloren. Und er sagt: „Deutschland und Belgien müssen im Fall Dutroux enger zusammenarbeiten, um die ungeklärten Fragen zu beantworten.“ Für ihn ist klar, dass Geheimdienste in dem ganzen Komplex eine Rolle spielen müssen. „Das wäre der Grund dafür, dass systematisch Ermittlungen behindert wurden. Es ist eben die Pflicht von Justiz, Polizei und Geheimdiensten, uns mitzuteilen, was wirklich mit unseren Kindern geschehen ist und wer dafür die Verantwortung trägt. Das gilt auch für den Fall Manuel Schadwald.“
Er empfindet heute nur Wut und Hass für Dutroux. Er sagt, er würde es niemals schaffen, dem Mörder seiner Tochter gegenüberzutreten. Dabei hätten Lambrecks und seine Lebensgefährtin Els Schreurs so viele Fragen an den Mann. Könnte Jean Lambrecks einer Amnestie zustimmen, wenn Dutroux alle Hintergründe des Netzwerkes offenlegen würde? Der Mann schaut bei dem Gespräch in dem belgischen Landgasthof wieder gedankenverloren ins Feuer: „Ich wäre bereit, es mir zu überlegen.“
Artikel vom 12.07.2015 / Ausgabe 28 / Seite 17
http://www.welt.de/print/wams/article143858361/Die-verlorenen-Kinder.html