Zwangsinternate – Missbrauch an Kanadas Kinder der Ureinwohner – Selbstmorde als Folge

Indianische Wurzeln austreiben Untersuchung deckt Missbrauch an Kanadas Ureinwohnern auf

Viele Ureinwohner Kanadas hatten keine schöne Kindheit. Sie wurden in Internaten misshandelt. Foto: imago/XinhuaViele Ureinwohner Kanadas hatten keine schöne Kindheit. Sie wurden in Internaten misshandelt. Foto: imago/Xinhua

Edmonton. Kanadas Ureinwohner wurden lange in staatlichen Internaten systematisch missbraucht und misshandelt. Das hat nach sechs Jahren Untersuchung jetzt die staatliche Wahrheits- und Versöhnungskommssion festgestellt.

Dorothy Alpine erinnert sich mit Schrecken an ihre Kindheit. Alpine war sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal in der Schule geschlagen wurde. „Ich hatte mir gerade in der Küche ein Butterbrot geschmiert, als die Nonne hereinkam, mich böse angestarrt und mir eine Ohrfeige verpasst hat. Einfach so, ohne Grund“, erinnert sich Alpine.

Danach war es für sie mit der kindlichen Unschuld vorbei. Auf die Ohrfeige folgten immer mehr und das Leben im Internat in der westkanadischen Stadt Cranbrook wurde für die junge Ktunaxa-Indianerin zum Horror: „Es war so traumatisch für mich, dass ich vor lauter Angst zur Bettnässerin geworden bin.“

Psychische Folgen

Über sechzig Jahre ist das mittlerweile her, doch die 69-Jährige kämpft bis heute mit den körperlichen und psychischen Folgen. Wie so viele Ureinwohner in Kanada, die vom Staat über Jahrzehnte zwangsweise in eigens dafür eingerichtete Indianer-Internate eingewiesen und dort systematisch erniedrigt, geschlagen und misshandelt wurden mit dem Ziel, sie ihrer Kultur zu berauben und in der weißen Gesellschaft zu assimilieren.

Vor einiger Zeit hat Alpine ihre Geschichte der Wahrheits- und Versöhnungskommission erzählt, die von der kanadischen Regierung damit beauftragt worden war, die Zustände in den Internatsschulen zu dokumentieren. Die Kommission führte dazu über sechs Jahre hinweg über 6000 Interviews. Am Dienstag wurden die Ergebnisse vorgestellt.

Tödliche Quälereien

Der Abschlussbericht legt in schockierender Offenheit eines der dunkelsten Kapitel der kanadischen Geschichte schonungslos offen. Laut Kommission mussten zwischen 1883 und 1996 mehr als 150000 Ureinwohnerkinder die Zwangsinternate besuchen, die vom Staat eingerichtet und finanziert und von den Kirchen betrieben wurden. 6000 Kinder kehrten nicht zurück. Sie starben an den Folgen der Quälereien, der Erniedrigungen oder der Einsamkeit.

Der Kommissionsvorsitzende Justice Murray Sinclair sprach bei der Vorstellung des Berichts von einem „kulturellen Völkermord“, eine Einschätzung, die sich auch Kanadas Oberste Richterin Beverly McLachlin wenige Tage zuvor zu Eigen gemacht hatte. Ziel der kanadischen Politik sei es lange gewesen, „den Indianer im Kind“ zu töten und das „so genannte Indianer-Problem“ ein für alle Mal zu beseitigen, so McLachlin.

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Tatsächlich listet der Bericht horrende Zustände auf. So gehörten sexueller Missbrauch und physische Gewalt in vielen Internaten zu Alltag. Knapp 32000 ehemalige Schüler wurden wegen dieser Gewalttaten entschädigt, 6000 Anträge werden noch bearbeitet. Knapp drei Milliarden Dollar hat die Regierung bislang an die Opfer ausgezahlt.

In den Schulen waren auch alle indianischen Sprachen verboten, ebenso kulturelle Bräuche und Feiern. Kontakt zu den Eltern oder anderen Familienmitgliedern war unerwünscht. Die meisten Kinder durften nur einmal im Monat Besuch bekommen – wenn überhaupt. Viele wuchsen ohne ihre leibliche Familien auf. Manchmal wurde den Kindern medizinische Hilfe verweigert, um die Taten zu vertuschen.

Selbstmorde als Folge

Nicht wenige Ureinwohner nahmen sich später aus Scham und Angst über den Missbrauch das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingetrichtert, wie schlecht wir sind und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt“, berichtet auch Dorothy Alpine. Es ist eine Gewaltspirale, die bis heute nachwirkt: In vielen Indianergemeinden Kanadas gibt es mehr Selbstmorde, Verbrechen und Drogenprobleme als im Rest des Landes.

Die kanadische Regierung hatte sich vor sieben Jahren in einer Erklärung zu ihrer historischen Verantwortung bekannt und sich für die Vorfälle entschuldigt. Auch der Papst hat die Vorfälle bedauert, eine offizielle Entschuldigung steht allerdings noch aus. Von einem „kulturellen Genozid“ aber hat die Regierung bislang nicht gesprochen.

Zeit zu handeln

Bei einer Parlamentsdebatte in Ottawa am Dienstag vermied Premierminister Stephen Harper den Ausdruck erneut und sprach stattdessen von kultureller Zerstörung. Ebenso wenig wollte er sich festlegen, wie die Regierung auf den Bericht zu reagieren gedenkt.

Kommissionschef Sinclair hat in dem Bericht knapp 100 Empfehlungen vorgelegt, um das Verhältnis Kanadas zu seinen Ureinwohnern zu verbessern. „Die Zeit der Entschuldigungen ist vorbei, jetzt ist Zeit zu handeln“, betonte Sinclair. Unter anderem forderte er eine Erklärung von Königin Elizabeth II., in der die Urvölker als Nationen innerhalb Kanadas anerkannt werden.

Ein Artikel von Jörg Michel, 3.06.2015, 12:00 Uhr

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