Wenn Uwe Reimann heute an die Auseinandersetzungen denkt, kommt es ihm vor, als wäre alles schon vorgezeichnet gewesen. Denn das Familienidyll hielt nicht lange. Als Samuel vier Jahre alt war, brach die Beziehung auseinander. Reimann war raus. Aus dem Haus, das sie gemeinsam gekauft hatten und sich nun nicht mehr leisten konnten. Und aus dem Leben seines Sohnes. So jedenfalls fühlte es sich an für den Betriebswirt. Denn das, was er gern wollte, den gleichrangigen Umgang mit Samuel, dem er sich so nahe fühlte, wurde ihm vom Gericht verwehrt.
Dabei waren die Voraussetzungen dafür eigentlich ideal. Beide Elternteile leben gerade einmal einen Kilometer voneinander entfernt, der Kindergarten liegt genau auf der Hälfte der Strecke, und auch die Oma wohnt um die Ecke. Samuel hätte nicht einmal den Ortsteil wechseln müssen. Doch der Richter lehnte ab. Der Junge sei noch zu zart, befand er. Das von der Mutter vorgeschlagene Modell eines langen Wochenendes von Donnerstag zwölf Uhr bis Dienstag zwölf Uhr – alle zwei Wochen – schien ihm geeigneter.
Seitdem kämpft Reimann. Um das Sorgerecht. Um mehr Zeit mit seinem Sohn. Und gegen das System, das ihn aus seiner Sicht grob benachteiligt. Was hat die Politik nicht alles auf den Weg gebracht, um Väter stärker an der Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen. Vätermonate. Elternzeit plus. Recht auf Teilzeit. Überall soll er ran, der neue Mann. Aber wenn es zur Trennung kommt, erfolgt plötzlich die Rolle rückwärts in die 50er-Jahre: Mutti betreut die Kinder, und Vati zahlt Unterhalt. „Residenzmodell“ nennt sich das im Unterhaltsrecht, und es bedeutet, dass Scheidungskinder ihren Lebensmittelpunkt in der Regel bei einem Elternteil haben. Der andere darf besuchen – und zahlen. Dass Eltern sich auch nach der Trennung gleichberechtigt um ihre Kinder kümmern, ist im Gesetz nicht vorgesehen.
Für die Meldeämter gilt ein Erwachsener, der allein mit einem Kind zusammenwohnt, als alleinerziehend – egal, ob da noch ein zweiter Elternteil ist, der das Kind mitbetreut. Wie viele von den 1,6 Millionen Alleinerziehenden wirklich ganz allein auf sich gestellt sind, weiß niemand. Den Status „gemeinsam erziehend“ kennen weder das Melderecht noch die Kindergeldstelle oder das Steuerrecht. Den Alleinerziehenden-Freibetrag kann nur ein Elternteil beantragen. Selbst wenn beide beruflich zurückstecken, um sich gemeinsam um ihr Kind kümmern. Der andere Elternteil wird statistisch ausgeblendet.
So wie Uwe Reimann. 20 Tage im Monat lebt Samuel bei seiner Mutter, zehn bei ihm, plus die Hälfte der Ferien, das seien im Jahr 202 zu 163 Tage, rechnet Reimann vor. Trotzdem muss er den vollen Unterhalt zahlen. Für seine Ex, argwöhnt Reimann, sei das ein prima Modell. Mit dem Vater ihrer Töchter hat sie sich auf denselben Besuchsrhythmus geeinigt. „So hat sie zwei lange freie Wochenenden im Monat und den vollen Unterhalt von beiden Vätern.“
Klar sei er verbittert, sagt Reimann. Außer Anwalts- und Gerichtskosten ist ihm kaum mehr geblieben als das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Immerhin, das Sorgerecht hat er inzwischen, nachdem der Gesetzgeber ledige und verheiratete Väter 2013 gleichgestellt hat. Aber Reimann will mehr. Bei dem Verein „Väteraufbruch für Kinder“ engagiert er sich jetzt für das „Wechselmodell“, das für getrennt lebende Väter und Mütter gleich viel Betreuungszeit mit ihren Kindern vorsieht – und für eine Neuordnung des Unterhaltsrechts, das die tatsächlich geleistete Betreuungszeit mit dem Bar-Unterhalt verrechnet. Schließlich habe er ja auch Kosten, wenn sein Sohn bei ihm ist. „Der Kühlschrank muss voll sein, die Waschmaschine läuft doppelt so häufig, Ausflüge und Unternehmungen kosten, und die Miete fürs Kinderzimmer fällt sowieso an.“
„Die bestehende Praxis zementiert die traditionelle Rollenaufteilung und bestraft Väter, die nach einer Trennung mehr als ein 14-Tage-Wochenendpapa sein wollen“, sagt Hans-Georg Nelles. Er ist Vorstandsmitglied im „Bundesforum Männer“ und hat es sich zum Ziel gesetzt, am althergebrachten Bild des Zahlvaters zu rütteln. Für Väter-Lobbyisten wie Nelles und Reimann bedeutet mehr Gerechtigkeit zweierlei: mehr Betreuungszeit für Väter, dafür weniger Unterhaltszahlungen.
Doch der Weg dahin ist steinig. Im November letzten Jahres hat der Bundesgerichtshof (BGH) erstmals anerkannt, dass es Fälle geben kann, in denen Eltern gemeinsam für den Unterhalt aufkommen müssen. Nämlich dann, wenn sie sich die Betreuung des gemeinsamen Kindes genau hälftig teilen. Doch schon bei einer 60:40-Aufteilung ist wieder allein eines der Elternteile – in der Regel der Vater – komplett zahlungspflichtig. Was die Neubewertung des Unterhaltsrechts angeht, ist der BGH damit auf halbem Wege stecken geblieben – und hat neue Ungerechtigkeiten erzeugt. „Aus rein finanzieller Sicht wäre es für Unterhaltspflichtige am sinnvollsten, die Arbeit mit den Kindern dem anderen Elternteil allein zu überlassen – ihn quasi zum Alleinerziehenden zu machen. Geld ersetzt aber keinen Elternteil“, sagt Markus Witt vom Verein „Väteraufbruch für Kinder“. „Eltern lieben ihre Kinder und wollen für sie da sein. Dafür werden sie durch die aktuellen familienrechtlichen Regelungen auch noch finanziell bestraft.“
In vielen Fällen befeuert die Hopp-oder-top-Rechtsprechung Konflikte zwischen getrennten Eltern noch zusätzlich. Denn wer kann schon wissen, ob der Vater, der die Hälfte der Woche mit seinem Kind verbringen will, eigentlich einfach nur keinen Unterhalt mehr zahlen will? Und wer sagt, dass die Mutter, die dies verhindern will, wirklich nur das Kindeswohl im Sinn hat und nicht in Wahrheit um ihre Einkünfte bangt?
Aus diesem Grund werben Organisationen wie der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) schon seit Langem für ein flexibleres Unterhaltsrecht, das ab einem Betreuungsanteil von 30 Prozent eine stufenweise Abschmelzung der Zahlungen vorsieht. Auch eine Online-Petition für das Wechselmodell hat der Verband auf den Weg gebracht. „Wir sind uns bewusst, dass diese Variante nicht für jeden Trennungsfall geeignet ist, wissen aber auch, dass in vielen Fällen dieses kindeswohlorientierte Modell von Elternteilen schlicht und einfach aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt wird“, sagt ISUV-Sprecher Claus Merten, selbst Fachanwalt für Familienrecht.
Die Politik scheint die Problematik inzwischen zu erkennen.
Am 4.Mai lädt das Bundesjustizministerium zu einem Symposium zum Thema „Unterhalt im Wechselmodell sowie bei erweitertem Umgang„.
Dazu sind auch Experten aus der Wissenschaft geladen. Hildegund Sünderhauf ist Professorin für Familienrecht an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und befasst sich seit Jahren mit dem Wechselmodell. Weil es in Deutschland kaum Forschung dazu gibt, hat sie in einem dicken Wälzer rund 50 internationale Studien zur „paritätischen Doppelresidenz“, wie die gemeinsame Betreuung von Scheidungskindern auch genannt wird, ausgewertet. Mit einem frappierend eindeutigen Resultat: „Fast alle haben zum Ergebnis, dass es Kindern im Wechselmodell besser geht als in der Alleinbetreuung.“
93 Prozent von ihnen hätten empirischen Untersuchungen zufolge in der Rückschau angegeben, dass das Wechselmodell die bestmögliche Betreuungsform für sie gewesen sei, sagt Sünderhauf. Umgekehrt beklage die überwiegende Mehrheit der Kinder, die im klassischen „Residenzmodell“ aufgewachsen sei, dass sie den anderen Elternteil vermisst und gern häufiger gesehen hätten. „Natürlich“ sei es „der primäre Wunsch von allen Kindern, mit Mutter und Vater zusammenzuleben“, sagt sie: „Das Zweitbeste aber ist es, wenigstens mit beiden Eltern möglichst viel Kontakt zu haben, wenn sie schon nicht mehr als Familie zusammenleben wollen.“
Es brauche einen „gesellschaftlichen Impuls zu sagen: Wir finden es richtig, dass Mütter und Väter auch nach der Trennung aktiv für ihr Kind Verantwortung tragen“, sagt Sünderhauf. „Wir brauchen einen Common Sense, dass es unanständig ist, Trennungen auf dem Rücken der Kinder auszutragen und dem anderen Elternteil das Kind zu entziehen. In Skandinavien kann man sich in so einem Fall nicht mehr auf die Straße trauen!“
Anton B. würde diese Sätze wahrscheinlich unterschreiben. Der heute 20 Jahre alte Student war acht Jahre alt, als seine Eltern sich trennten, und sie taten etwas, was sich Bilderbuchautoren nicht besser hätten ausdenken können. Sie befragten Anton nach seinen Wünschen. Und sie stellten ihm eine Kinderpsychologin zur Seite, ihm in der schwierigen Phase beizustehen. „Ich wollte meinen Vater nicht nur am Wochenende sehen“, sagt Anton. „Und ich wollte keine ganze Woche von dem jeweils anderen getrennt sein.“
Antons Eltern setzten sich zusammen und entwickelten ein Modell, das allen Seiten gerecht werden sollte. Montag, Dienstag, Mittwochmorgen bei Mama, Mittwochnachmittag, Donnerstag und Freitag bei Papa, die Wochenenden im Wechsel. Ferien und Feiertage wurden geteilt: Weihnachten bei Mama, Ostern bei Papa, im nächsten Jahr umgekehrt. „Anton hat das gemacht wie ein Uhrwerk“, sagt seine Mutter Anke. „Er wusste die Zeiten manchmal besser als wir.“ Als Anton 14 wurde, haben die Eltern ihm freigestellt, ob er etwas ändern wollte, schließlich hatte er da das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Doch Anton wollte alles so lassen, wie es war. Die Hälfte der Zeit bei Mama und ihrem neuen Mann. Die andere Hälfte bei Papa, seiner neuen Frau und dem kleinen Bruder. „Es erschien einfach als das natürlichste Modell“, sagt er heute. „Es war eine gute Entscheidung.“
Das sieht auch Anke B. so. Dass sie und ihr Ex-Partner sich gleichberechtigt um Anton kümmern würden, stand für sie nie infrage. Doch das Loslassen fiel ihr dann doch schwer. „Das erste Weihnachtsfest ohne Anton war hart“, sagt Anke B. „Aber man wächst da rein. Ich musste lernen, darauf zu vertrauen, dass der andere mit dem Kind schon alles richtig macht – trotz des Streits, den wir Eltern untereinander hatten.“ Dass beide keine finanziellen Ansprüche aneinander stellten, habe die Situation zusätzlich entspannt, sagt Anke B. „Ich hätte mich nicht gern um zehn Euro gestritten. Ich habe meine Unabhängigkeit immer sehr geschätzt.“
Und wenn sich Eltern nicht gütlich einigen können wie die von Anton? Wenn sie streiten, um jede Stunde mit dem Kind, um jeden Euro Unterhalt? Vielen Richtern falle es zunehmend schwer, einen Elternteil einfach „auszusortieren“, sagt Hildegund Sünderhauf. „Sie sagen oft: Wir haben hier zwei voll kompetente, tolle Eltern. Beide sind liebevoll, zugewandt, haben Ressourcen.“ Es herrsche quasi Punktgleichheit. „Und dann wird ein kleines Detail an den Haaren herbeigezogen, das die Waagschale wieder in die eine Richtung kippen lässt.“ Und damit werde eine Entscheidung gerechtfertigt, die gravierende Folgen habe. Viele Eltern stritten sich aus Angst: aus Angst, das Kind zu verlieren, aus Angst, aus seinem Leben herausgedrängt zu werden oder keine maßgebliche Rolle mehr spielen zu können. „Und diese Angst führt zu Eskalation“, sagt Sünderhauf. Auch deshalb sollten Richter ihrer Meinung nach die Möglichkeit haben, das Wechselmodell anzuordnen – auch gegen den Willen eines Elternteils.
In der Politik will sich bisher aber kaum jemand so weit aus dem Fenster lehnen. Paul Lehrieder (CSU), Vorsitzender des Familienausschusses im Bundestag, hat jetzt erst einmal ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben, das Auskunft darüber geben soll, welche Auswirkungen die verschiedenen Umgangsmodelle langfristig auf die betroffenen Scheidungskinder haben. Ergebnisse sind frühestens in zweieinhalb Jahren zu erwarten. Aber Lehrieder will sich auch nicht drängen lassen. „Was gerecht ist und den Familien hilft, können wir wohlwollend prüfen. Aber in erster Linie muss es um das Kindeswohl gehen, nicht darum, wie Mütter oder Väter sich fühlen.“ Dass es zumindest in Sachen Unterhaltsrecht Handlungsbedarf gibt, scheint in der Union aber unbestritten zu sein. „Es entspricht der Lebenswirklichkeit, dass viele Elternteile auch nach einer Trennung weiter die Verantwortung für die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder teilen wollen“, sagt Sabine Sütterlin-Waack, zuständig für Fragen des Unterhaltsrechts.
Anke B. sagt jedenfalls, sie würde alles jederzeit wieder so machen. Als es neulich darum ging, gemeinsam zu überlegen, wie man Antons Studium wuppen kann, da saßen sie zu fünft an einem Tisch: Vater, Mutter, die neuen Lebenspartner und Anton. „Und dann kann man in so einer Runde auch mal sagen: Es war eine harte Zeit, aber es war gut.“
*Name geändert
Artikel vom 12..04.2015 / Ausgabe 15 / Seite 6
http://www.welt.de/print/wams/politik/article139419584/Aufstand-der-Entrechteten.html
Tags: Zahlväter – Zahlpapa – Zahlpapi – Unterhalt – vaterlose Gesellschaft – Reform – Besuchskontakt – Doppelresidenz