Mami, kannst du mich abholen, ich fühle mich hier gar nicht wohl», flüstere ich in den Telefonhörer. «Schätzlein, du musst dir ein bisschen Zeit geben. Das ist normal am Anfang», sagt meine Mutter in besänftigendem Ton. «Okay, aber wenn es gar nicht geht, kommst du, ja?», frage ich noch leiser. «Selbstverständlich». Ich lege auf und schleiche zurück ins Wohnzimmer.
Ich war zwölf Jahre alt, meine Eltern hatten sich gerade getrennt und ich sollte mein erstes Wochenende im neuen Zuhause von Papa verbringen. Doch die Eingewöhnungsphase war nicht leicht. Zu Hause war eben das Haus, in dem wir aufwuchsen, wo mich ein flauschiges Flanell-Elefanten-Muster zudeckte und wo die alte spröde Schaukel im Garten auf mich wartete.
Anders bei Emely. Sie ist drei Jahre alt und hat zwei Zuhause – das von Mami und das von Papi. Ihre Eltern sind getrennt und leben das Wechselmodell, auch alternierende Obhut genannt.
Das heisst, die Eltern teilen die Betreuung gleichberechtigt auf. Mindestens aber 30 Prozent pro Elternteil, bei Emely ist es 50:50.
Dabei ist das Verhältnis weniger wichtig als die Tatsache, dass das Kind bei beiden Eltern zu Hause ist und nicht zu Besuch. «Ich wollte nicht auf meine Tochter verzichten und nur der Bezahl-Papi sein, wie es oft Standard ist», sagt Emilys Papa. «Er ist ihr Vater und hat genauso das Recht auf sie», sagt die Mutter.
Recht auf gemeinsame Sorge
Seit dem 1. Juli 2014 ist das gemeinsame Sorgerecht nach einer Trennung der Regelfall. Die gemeinsame elterliche Sorge stärkt Väter; sie können durch das Gesetz eher erreichen, dass sie ihre Kinder gleichberechtigt betreuen dürfen. Diese Neuerung bringt Aufwind für die alternierende Obhut.
Vor der Gesetzesrevidierung lebten etwa 5 bis 10 Prozent der betroffenen Familien das Wechselmodell. Die Zahl sollte nun steigen. Laut Martin Widrig, Verfassungsrechtler von der Universität Freiburg, hat der Bundesrat darauf verzichtet, ein bestimmtes Betreuungsmodell zu privilegieren.
Massgebend für die Betreuungsregelung soll neu das Kindeswohl sein. Damit ist nun die alternierende auf die gleiche Ebene wie die alleinige Obhut gestellt. «Wesentlich ist, dass die alternierende Obhut neu auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden können soll», erklärt Widrig. Nur so ist gewährleistet, dass die Gerichte die alternierende Obhut anordnen dürfen, wenn sie im Einzelfall die für das Kind günstigste Betreuungsregelung darstellt.
«Hängt die Betreuungsregelung wie bisher nur vom Willen eines Elternteils ab, darf das Gericht das Kindeswohl im Entscheid gar nicht berücksichtigen. Dies verstösst wohl gegen die Kinderrechtkonvention.» Gerichte müssten nun das Wechselmodell prüfen, auch wenn nur ein Elternteil dies verlangt.
«Das gemeinsame Sorgerecht wirkt sich positiv auf das Wechselmodell aus. Die Praxis zeigt, dass es einfacher wurde mit den Behörden», sagt Marcel Enzler, Präsident vom Verein Vaterverbot Schweiz.
Es brauche aber Zeit, bis sich das Volk vom traditionellen Modell «Einer arbeitet, einer betreut» löse. Tatsächlich wird das Familienbild aus den 50er-Jahren immer obsoleter. Die gemeinsame Betreuung der Kinder nach einer Trennung passt in die heutige Gesellschaft, in der auch Frauen 100 Prozent und Männer Teilzeit arbeiten.
Online-Hilfe für Eltern
In der Fachliteratur wird die alternierende Obhut einstimmig als die für das Kindswohl beste Variante betrachtet. Der aktuellste Bericht dazu wurde erst vor ein paar Tagen veröffentlicht: Linda Nielsen, eine führende amerikanische Expertin, fasst in der Fachzeitschrift «Journal of Divorce & Remarriage» alle bisherigen Studien zusammen.
Ihr Fazit: Kinder in einer alternierenden Obhut haben ein besseres emotionales und psychisches Wohlbefinden, sind gesünder, zeigen weniger Verhaltensauffälligkeiten und haben bessere Kontakte mit ihren Müttern und Vätern.
Um diese Betreuung Laien näherzubringen und Eltern den Einstieg zu erleichtern, hat Marcel Enzler die Plattform «wechselmodell.ch» gegründet und gestern aufgeschaltet. Herzstück ist das Online-Tool «Mein Betreuungsplan». Eltern können einen detaillierten Plan erstellen, der ihnen die genaue Aufteilung der Obhut aufzeigt. Der «Stundenplan» mit Farben und Uhrzeiten kann ausgedruckt und von beiden Parteien unterschrieben werden.
Die Distanz zwischen den beiden Wohnorten sollte so klein wie möglich sein. Nur sieben Kilometer entfernt liegen die beiden Zuhause von Emely. «Wir reden miteinander, sind kompromissbereit und flexibel», erklärt der Vater.
«Schliesslich haben wir uns einmal geliebt, wir wollten beide ein Kind. Ich sehe nicht ein, warum einer das Kind haben und der andere nur zahlen soll.» Doch was ist, wenn sich Eltern im Streit trennen? Dann braucht es laut Enzler umso mehr feste Vereinbarungen und einen geregelten Rhythmus. Mit dem Betreuungsplaner möchte er den Eltern den Einstieg vereinfachen.
Ob das neue Recht wirklich zu einem Anstieg der Wechselmodell-Eltern führt, könne nach dieser kurzen Zeit noch nicht beantwortet werden, sagt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Zürich auf Anfrage.
Wenn Richter in der Schweiz in Zukunft häufiger eine alternierende Obhut verfügen, folgen sie damit einem internationalen Trend. In anderen Ländern boomt das Modell. Vorreiter ist Schweden. Seit den 90er-Jahren können Richter dort die alternierende Obhut anordnen. Heute leben rund 30 Prozent im Wechselmodell.
Wäre ich im Schweden der 90er-Jahre aufgewachsen, hätte ich vielleicht auch zwei Zuhause gehabt. Ob ich eine noch engere Bindung zu meinem Vater aufgebaut hätte und dies die beste Variante für mein Wohl gewesen wäre, weiss ich nicht. Aber ich hätte bestimmt zwei Lieblingsflanelldecken gehabt. Vielleicht auch zwei Schaukeln.